Zäsur 2: Münchener Rück in der NS-Zeit
(1933 bis 1945)
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Die nationalsozialistische Machtübernahme bringt für die Geschäftstätigkeit zunächst keine grundlegenden Veränderungen. Der Vorstand kommt den Erwartungen der Nationalsozialisten nach. Als Rückversicherer ist Munich Re nicht direkt an Lebensversicherungsverträgen mit jüdischen Versicherungsnehmern beteiligt, profitiert aber indirekt von den zunehmenden Vertragsauflösungen. Über ihre Rückversicherungsquote ist Munich Re auch am Geschäft der Allianz mit der SS beteiligt. Im Kriegsverlauf baut Munich Re ihren Einfluss in den besetzten Gebieten weiter aus und plant eine Neuordnung der kontinentaleuropäischen Versicherungswirtschaft unter deutscher Vorherrschaft.
Trotz der neuen Machtverhältnisse ist Munich Re darauf bedacht, die guten Beziehungen zu ausländischen Geschäftspartnern nicht zu gefährden. Sie beteiligt sich – mit Ausnahme eines Falles – nicht an den Übernahmen in besetzten Ländern und nimmt damit eine Sonderrolle unter den deutschen Großunternehmen mit bedeutendem Auslandsgeschäft ein. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gerät das Unternehmen in eine existenzbedrohende Lage. Munich Re verliert ihr gesamtes Auslandsvermögen und den Zugang zu allen ausländischen Märkten. Ihre überwiegend in Reichsanleihen und Reichsschatzanweisungen angelegten Rücklagen und Prämienreserven sind nach dem Ende des Deutschen Reiches wertlos geworden.
Allianz-Generaldirektor Kurt Schmitt (ab 1938 Vorstandsvorsitzender von Munich Re) wird im Juni 1933 zum Reichswirtschaftsminister ernannt. Er, Wilhelm Kißkalt und das Vorstandsmitglied Alois Alzheimer treten aus Überzeugung schon im April bzw. Mai in die NSDAP ein. Von den vier übrigen Vorstandsmitgliedern, die zum Zeitpunkt des Kriegsendes amtieren, ist kein weiteres Mitglied in der NSDAP.
Die Nationalsozialisten fordern insbesondere Unternehmen aus dem Finanzsektor auf, jüdische Mitarbeiter zu entlassen. Bei Munich Re gibt es 1933 lediglich eine jüdische Mitarbeiterin, sie wird im März 1937 unter nicht geklärten Umständen pensioniert. Zwei weitere Mitarbeiter gelten nach den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 als „ jüdische Mischlinge“, werden aber nicht entlassen.
1934 – Kooperation mit der Deutschen Arbeitsfront (DAF)
Im Mai 1933 werden freie Gewerkschaften in Deutschland verboten und durch die Deutsche Arbeitsfront (DAF) ersetzt. Munich Re erkauft sich das Wohlwollen der DAF durch Unterstützungsmaßnahmen für die eigene Belegschaft und profitiert davon auch geschäftlich. So erhält sie 1934 vom DAF-eigenen Lebensversicherer Volksfürsorge beispielsweise eine Rückversicherungsquote von 80 Prozent.
1934/35 – Kurt Schmitt kehrt zur Allianz zurück
Kurt Schmitt pflegt gute Beziehungen zur NS-Führung. Er ist seit 1930 mit Hermann Göring befreundet und nimmt 1933 das Angebot vom Reichsführer SS Heinrich Himmler an, im Rang eines Oberführers ehrenhalber in die SS einzutreten. Schmitt bittet 1934 um Entlassung aus dem Amt des Reichswirtschaftsministers. Er kehrt 1935 als Aufsichtsratsvorsitzender zur Allianz zurück und erhält bei Munich Re ein Aufsichtsratsmandat.
1935 – erneut größter Rückversicherer
Munich Re erzielt erstmals seit dem Ersten Weltkrieg höhere Bruttoprämieneinnahmen als die Schweizer Rück. Damit übernimmt Munich Re nach Prämieneinnahmen wieder die Rolle des weltweit größten Rückversicherers.
1938 – Stornogewinne in der Lebensversicherung
Nach dem Pogrom am 9. und 10. November setzt eine Massenflucht jüdischer Bürger aus Deutschland ein. Um ihre Flucht zu finanzieren und der antisemitischen Verfolgung zu entkommen, kündigen tausende Juden ihre Lebensversicherungen. Die vorzeitige Vertragsauflösung ist für die Kunden mit finanziellen Verlusten verbunden, während sie bei den Erstversicherern zu Stornogewinnen führt. Munich Re profitiert davon durch ihre Quotenbeteiligungen und erzielt so allein im Geschäftsjahr 1938/39 Gewinne in Höhe von bis zu 600.000 Reichsmark.
1938 – Kurt Schmitt wird Vorstandsvorsitzender
Der Aufsichtsrat wählt Kurt Schmitt Ende 1937 zum Nachfolger von Wilhelm Kißkalt. Aus Sicht des Aufsichtsrats erscheint es politisch vorteilhaft, einen Vorstandsvorsitzenden mit persönlicher Verbindung zur NS-Führung zu haben – auch um Initiativen zur Verstaatlichung des Versicherungswesens abzuwehren. Schmitt wird Vorstandsvorsitzender und bleibt dies bis 1945.
1939 – Immobilien aus jüdischem Besitz
Munich Re erwirbt mehrere Immobilien aus jüdischem Besitz zu Preisen, die unterhalb des Marktwerts liegen. Das Unternehmen leistet dafür nach dem Krieg Restitutionszahlungen. Durch die „Arisierung“ wurde ein erheblicher Gewinn erzielt.
1939 – Auslandsgeschäfte über Union Rück
Seit 1923 laufen über die Schweizer Tochter Union Rück Tarngeschäfte in Ländern, in denen deutsche Unternehmen unerwünscht sind oder keinen Marktzugang mehr haben. 1935 erteilt Munich Re der Union Rück die Vollmacht, im Kriegsfall über das Auslandsvermögen zu verfügen. Mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 tritt diese in Kraft. Union Rück übernimmt die Verpflichtungen aus Rückversicherungsverträgen gegenüber Kunden aus alliierten und neutralen Staaten.
1940 – neuer Gemeinschaftsvertrag zwischen Allianz und Munich Re
Die zwischen der Allianz und Munich Re offiziell vereinbarte Rückversicherungsquote von 50 Prozent entspricht nicht mehr den Größenverhältnissen der Gesellschaften. Die Allianz ist schneller gewachsen als Munich Re. Ende der 1920er-Jahre wird die Quote einvernehmlich auf 37,5 Prozent gesenkt. Zehn Jahre später ist die Allianz wirtschaftlich so stark, dass auch dieser Anteil zu hoch erscheint und die Beziehung zwischen den Gesellschaften belastet. Die Vorstände beider Unternehmen handeln 1940 einen neuen Gemeinschaftsvertrag aus. Er senkt die Rückversicherungsquote für Munich Re auf 30 Prozent.
1940/41 – kurzfristiger Prämieneinbruch
Die kriegsbedingte Unterbrechung der direkten Geschäftsbeziehungen mit Versicherern in Frankreich, Großbritannien und vielen neutralen Staaten führt 1940/41 zu einem Einbruch des Prämienvolumens auf 186 Mio. Reichsmark. Durch zusätzliches Neugeschäft in den besetzten Gebieten steigt es schnell wieder an und erreicht im Geschäftsjahr 1942/43 einen neuen Höchststand von rund 250 Mio. Reichsmark.
Ab 1940 – Beteiligung an Geschäften mit der SS
Mehrere Warschauer Konzerngesellschaften von Munich Re gehören zu einem Konsortium unter Leitung der Allianz-Tochter Bayerische Versicherungsbank, das mehrere Feuerversicherungsverträge mit dem Zwangsarbeiterlager Płaszów bei Krakau abschließt (ab 1944 Konzentrationslager). Neben dieser direkten Beteiligung ist Munich Re über ihre Rückversicherungsquote auch am Geschäft der Allianz mit der SS beteiligt. Dazu zählen auch Verträge, über die Baracken und Betriebe in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Neuengamme, Ravensbrück, Sachsenhausen und Stutthof versichert sind. Gleiches gilt für die Verträge, mit denen sich die Ghettoverwaltung von Lodz bei der Allianz gegen Feuer, Diebstahl und andere Risiken versicherte.
1941 – Übernahme der Čechoslavia in Prag
Nach der Besetzung Prags im Frühjahr 1939 drängt Munich Re auf eine Mehrheitsbeteiligung an dem Erstversicherer Čechoslavia. Diese kommt erst 1941 zustande, nachdem der bisherige Verwaltungsratsvorsitzende und sein Stellvertreter von der deutschen Besatzungsmacht ermordet wurden. Danach beugen sich die Eigentümer der Gewalt und verkaufen Anteile – Munich Re erhöht ihre Beteiligung auf 55 Prozent. Dies ist der einzige Fall, in dem Munich Re die Besatzung für eine Übernahme nutzt. In anderen besetzten Gebieten versucht sie stattdessen, ihr Netzwerk unbeschadet zu halten und stellt sich auch schützend vor Erstversicherer, an denen sie beteiligt ist.
1941 bis 1943 – Vereinigung zur Deckung von Großrisiken
Bei Munich Re entstehen Pläne, die europäische Versicherungsbranche unter deutscher Vorherrschaft neu aufzustellen. Kurt Schmitt initiiert eine „Vereinigung zur Deckung von Großrisiken“, die einem politisch motivierten Kartell gleichkommt. Beteiligt sind neben Munich Re vor allem die italienischen Versicherer Generali und Riunione sowie die Schweizer Rück. Schmitt wird Präsident und leitet die Vereinigung bis zu ihrem Zerfall Ende 1943 nach dem Frontwechsel Italiens.
1944 – Einzelne Hilfen für jüdische Konzernrepräsentanten
Während in der Konzernzentrale in München – bis auf eine Mitarbeiterin – keine Juden beschäftigt waren, sah es in vielen Auslandsgesellschaften anders aus, etwa im besetzten Polen. Hier kündigen die Beteiligungsgesellschaften von Munich Re ihren jüdischen Mitarbeitern aufgrund der rigiden gesetzlichen Bestimmungen. In Einzelfällen setzen sich Vorstandsmitglieder jedoch für jüdische Konzernrepräsentanten ein und bewahren diese vor der Deportation. Den Anstoß dazu geben auch geschäftliche Erwägungen. So reist Alois Alzheimer im Juni 1944 zum Beispiel nach Ungarn und erreicht, dass der Direktor der Europäischen Güter- und Reisegepäck-Versicherung in Budapest sowie dessen Bruder als Buchhalter weiterarbeiten dürfen. Beide sind Juden.
Krieg und NS-Herrschaft enden am 8. Mai 1945. Die Kontakte zwischen Munich Re und ihren ausländischen Partnern brechen vollständig ab. Kurt Schmitt und Alois Alzheimer werden von der amerikanischen Militärregierung sofort suspendiert und inhaftiert. Auch gegen das Vorstandsmitglied Walther Meuschel spricht die US-Militärregierung eine Entlassung- und Suspendierungsanordnung aus. Er war als Wehrmachtsoffizier in Frankreich und wurde vermutlich der Wirtschaftsspionage verdächtigt.
Auf der Suche nach einem politisch unbelasteten Nachfolger für Schmitt fällt die Wahl auf Eberhard von Reininghaus. Er ist seit 1938 für Munich Re tätig – zunächst in Wien und ab 1939 bis 1945 als Generalbevollmächtigter der Direktion in München. Reininghaus ist österreichischer Staatsbürger, wurde in Wien nach dem „Anschluss“ politisch verfolgt und galt mit einem jüdischen Großelternteil während der NS-Zeit als sogenannter Mischling zweiten Grades. Seine offizielle Ernennung zum Vorstandsvorsitzenden erfolgt am 1. September 1946.