Munich Re logo
Not if, but how

Entdecken Sie die Munich Re Gruppe

Lernen Sie unsere Konzernunternehmen, Niederlassungen und Tochtergesellschaften weltweit kennen.

Explosive Mischung
Explosive Mischung
© picture alliance / ZUMAPRESS.com / Yue Yuewei
    alt txt

    properties.trackTitle

    properties.trackSubtitle

    Das Unglück in der chinesischen Stadt Tianjin vom August 2015 ist nur eines unter vielen, aber mit Abstand das schwerste. Durch die unsachgemäße Lagerung von Gefahrgütern kommt es immer wieder zu Explosionen, die noch in großer Entfernung schwere Schäden anrichten können.
    Gewaltige Detonationen erschütterten die chinesische Stadt Tianjin am späten Abend des 12. August 2015. Die beiden heftigsten Explosionen rissen einen riesigen Krater in den Boden und setzten eine Energie frei, die Erdbeben der Magnitude 2,3 und 2,9 entsprach. Dem offiziellen Untersuchungsbericht der chinesischen Behörden zufolge war die Sprengkraft der Explosionen vergleichbar mit einem TNT-Äquivalent von knapp 450 Tonnen. Am Himmel breitete sich ein mehrere Hundert Meter hoher Rauchpilz aus.

    Brand greift auf Düngemittel über

    Das Unglück wurde laut offiziellem Untersuchungsbericht durch die spontane Selbstentzündung von Cellulosenitrat, auch Nitrocellulose oder Schießbaumwolle genannt, ausgelöst. Ca. 207 Tonnen des Materials befanden sich in Containern im Lagerbereich eines Logistikunternehmens innerhalb des Hafengeländes von Tianjin, weitere ca. 27 Tonnen waren im Ankunftsbereich zwischengelagert. Der Brand griff dann auf rund 800 Tonnen des unweit gelagerten Düngemittels Ammoniumnitrat über und brachte dieses zur Explosion. Der außerhalb der Bebauung entstandene Explosionskrater deutet darauf hin, dass die Container mit dem Cellulosenitrat unsachgemäß im Freien abgestellt waren. Untersuchungen zeigten, dass die starke Sonneneinstrahlung die Temperatur in den Containern auf bis zu 65 °C steigen ließ. Das führte dazu, dass die Gebinde mit Cellulosenitrat austrockneten und sich schließlich selbst entzündeten. Wie aus dem offiziellen Untersuchungsbericht weiter hervor geht, hatte der Betreiber des Lagerareals mehr als 100 verschiedene Gefahrenstoffe gelagert, deren Mengen zum Teil weit über das zulässige Maß hinaus gingen. Die zehn wichtigsten Gefahrenstoffe erreichten Mengen zwischen knapp 300 und 2.000 Tonnen (siehe Tabelle). Insgesamt befanden sich fast 11.400 Tonnen Chemikalien im „Dangerous Goods Warehouse“ und in der „Arrival Section“, weitere ca. 4.800 Tonnen auf dem Gelände des Logistikunternehmens, darunter hochgiftige und explosive Substanzen. Laut Bericht wurden 49 Personen festgenommen und darüber hinaus 123 weitere fahrlässigen Verhaltens und/oder der Bestechlichkeit bezichtigt. Die Missachtung der Vorschriften führte offenbar dazu, dass die Anhäufung von Gefahrenstoffen unentdeckt blieb.

    Die zum Zeitpunkt der Explosion in den Lagergebäuden aufbewahrten chemischen Substanzen

    Bei einigen chemischen Substanzen (farbig markiert) befanden sich größere Mengen sowohl im Gefahrgutlager als auch im Logistiklager für ankommende Güter.
    Durch die Explosionen und das Feuer wurden laut Untersuchungsbericht insgesamt 129 Chemikalien freigesetzt, die in der Umgebung Luft, Wasser und Böden kontaminierten. Besonders die Luft war kurz nach den Unglück schwer belastet. Wind und Hitze ließen die Schadstoffkonzentrationen in den folgenden 13 bis 18 Stunden allerdings deutlich absinken. Rund 2,3 Kilometer vom Unglücksort entfernt stellte man in einem Gewässer erhebliche chemische Verunreinigungen fest, und auch der Explosionskrater füllte sich mit kontaminiertem Wasser, das später im Golf von Bohai entsorgt wurde. Zudem wurden gut 320 Tonnen der hochgiftigen und umweltschädlichen Chemikalie Natriumcyanid vermisst, die maximal zulässige Lagermenge soll dabei nur zehn Tonnen betragen haben. Der Einsatz großer Mengen von Wasserstoffperoxid nach dem Unglück hat dazu beigetragen, das noch vorhandene Natriumcyanid weitgehend zu neutralisieren. Der Rest wurde recht schnell durch Luftsauerstoff oxidiert und damit unschädlich gemacht.

    Einer der größten Nicht-Naturkatastrophen- Schäden in Asien

    Nach Einschätzung von Munich Re könnte sich der versicherte Marktschaden auf zwei bis drei Milliarden Euro belaufen, womit er einer der größten Nicht- Naturkatastrophen-Schäden in Asien wäre. Für die Erst- und Rückversicherer dürfte er sich zudem zu einem der komplexesten Schadenfälle der jüngeren Vergangenheit entwickeln. Den offiziellen Angaben zufolge kamen 173 Menschen ums Leben oder gelten als vermisst, darunter 99 Feuerwehrleute, und es gab etwa 800 Verletzte. Der Feuerball und die Druckwelle der Explosionen zerstörten Container und hinterließen schwere Schäden an Lagerhallen, Produktionsstätten und Wohnhäusern. 304 Privat-, Gewerbe- und Industriegebäude wurden zum Teil schwer beschädigt. 7.533 Container und 12.428 Importfahrzeuge erlitten Totalschäden. Fensterscheiben gingen im Umkreis von mehreren Kilometern zu Bruch. Auch der nahe gelegene Bahnhof Donghai wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen. Nur weil sich die Explosionen spätabends ereigneten und aufeinandergestapelte Container  die Wucht der Detonationen hemmten, waren nicht noch mehr Todesopfer zu beklagen. Der Hafen von Tianjin nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er das Tor zur Region Peking bildet und sich die Anlagen in den vergangenen Jahren auf einer Fläche von mehr als 100 Quadratkilometern ausgedehnt haben. Er ist nicht nur der wichtigste Umschlagplatz für die Hauptstadtregion, sondern gemessen an der Tonnage inzwischen der drittgrößte Hafen der Welt. Vorkehrungen zur Einhaltung der Gefahrgutbestimmungen sind angesichts des rapiden Wachstums möglicherweise vernachlässigt worden. Die bedingt durch die starke Expansion sehr heterogene Ansammlung von Gebäuden und Industrien führte dazu, dass sich unmittelbar in der Nähe des Chemielagers mehrere Zwischenlager für bis zu 75.000 fabrikneue Automobile befanden, hauptsächlich hochwertige Importmarken. Auf sie entfällt der größte Anteil der versicherten Schäden. Der an den gelagerten Gütern und Containern entstandene Gesamtschaden ist weiterhin unklar. Insgesamt sollen etwa 30.000 Container betroffen sein. Ob und in welchem Ausmaß sich darin Waren befinden, ist ebenso unklar. Bei vielen der zerstörten und zum Teil durch die Luft gewirbelten Container dürfte es sich jedoch um Leercontainer gehandelt haben, die in sogenannten Containerdepots standen.

    Sach- oder Transportversicherung?

    Die Schadenbearbeitung durch die Versicherer wird aufgrund der komplexen Thematik noch längere Zeit in Anspruch nehmen. Zunächst gilt es zu klären, ob beschädigte Fahrzeuge in den Bereich der Sach- oder der Transportversicherung fallen. Das hängt vor allem davon ab, wie in den jeweiligen Policen der Gefahrenübergang definiert ist (Kaikante oder bis hin zum ersten Abnehmer). Die richtige Zuordnung zur Sach- oder Transportversicherung ist außerdem maßgeblich dafür, ob und in welchem Umfang Selbstbehalte zum Tragen kommen und inwieweit gegebenenfalls vereinbarte Markenschutzklauseln Anwendung finden (siehe auch den Beitrag zu diesem Thema auf Seite 20). Diese vornehmlich im Transportversicherungsbereich anzutreffenden Klauseln können es dem Versicherungsnehmer ermöglichen, auch bei nur begründbar vermuteten Schäden einen Totalschaden zum Schutz des Markennamens geltend zu machen. Die genaue Schadenermittlung wird dadurch erschwert, dass die Behörden Tausende Fahrzeuge aus der Kernzone des Explosionsorts unmittelbar nach dem Ereignis eingezogen und vernichtet hatten, noch bevor die Schadengutachter ihre Arbeit aufnehmen konnten. Ungeklärt sind zudem steuer- und zollrechtliche Fragen. Neben der Mehrwertsteuer (17 Prozent auf den Fahrzeugwert) sind auf hochwertige ausländische Fahrzeuge auch ein Importzoll von 25 Prozent sowie eine Luxussteuer zu entrichten, die sich je nach Hubraum auf bis zu 40 Prozent belaufen kann. Welche Beträge hier bei einem Totalverlust bzw. einem Teilschaden anzusetzen sind, bedarf noch der Klärung mit den chinesischen Behörden.

    Tianjin kein Einzelfall

    Wie gefährlich der nachlässige Umgang mit Ammoniumnitrat ist, zeigte sich bei einer Vielzahl von Unglücken, die teilweise lange zurückreichen. So kamen 1921 bei der Explosion von insgesamt 4.500 Tonnen Ammoniumnitrat in einem Chemiewerk im pfälzischen Oppau 561 Menschen ums Leben. 1947 explodierte im Hafen von Texas City ein mit Ammoniumnitrat vollbeladenes Schiff und riss 581 Menschen in den Tod. Aus jüngerer Zeit stammt das Unglück von Toulouse am 21. September 2001. Dort starben bei einer Explosion von rund 300 Tonnen Ammoniumnitrat in einer Chemiefabrik 31 Personen, mehr als 2.300 wurden verletzt. Reihenweise gingen Fenster, Türen und Dächer zu Bruch, 5.000 Menschen wurden obdachlos. Die Unglücksursache konnte bis heute nicht ermittelt werden. Die offizielle These der Staatsanwaltschaft geht von einem jahrelangen Zersetzungsprozess von verunreinigtem Ammoniumnitrat unter verschiedenen Umwelteinflüssen aus, wodurch es schließlich zu einer Selbstentzündung in einem Behälter kam.

    Im Bereich der Lagerung und des Transports von gefährlichen Gütern existiert eine Vielzahl von internationalen und nationalen Regelungen, die es einzuhalten gilt. Internationale Grundlage für Gefahrgutbestimmungen bilden die von den Vereinten Nationen herausgegebenen „Model Regulations“ der „Recommendations on the Transport of Dangerous Goods“. Für den Transport und die Lagerung gefährlicher Güter in der Seeschifffahrt hat die International Maritime Organization (IMO) verbindliche Sicherheitsvorschriften erarbeitet, die je nach Land mehr oder weniger anerkannt sind. Zentrale Richtlinie ist hier unter anderem der International Maritime Dangerous Goods Code (IMDG-Code). Die Bestimmungen laufen allerdings ins Leere, wenn sie nicht beachtet werden und keine ausreichende Kontrolle sichergestellt wird.

    Unterschätztes Risiko Betriebsunterbrechung

    Hohe Schäden sind auch außerhalb der direkt exponierten Zone möglich, wie Enschede, West oder Tianjin zeigen. Ähnliche Szenarien wie in Tianjin sind ebenfalls für andere Hafenanlagen denkbar, die in  der jüngeren Vergangenheit rasch und unstrukturiert gewachsen sind. In „alten“ Häfen wie Los Angeles sind die Risiken dagegen deutlich niedriger. Dort haben die Verantwortlichen aus früheren Unglücken gelernt und gefährdete Areale an weniger exponierten Stellen angesiedelt. Im Bereich der Kumulrisiken sollte Tianjin zum Anlass genommen werden, bei großen Hafenanlagen, aber auch bei Großlägern oder Industrieparks die Kumulrisiken genau zu prüfen. Das gilt nicht nur hinsichtlich der Konzentration unterschiedlichster Frachtarten auf einem eng begrenzten Gebiet, sondern auch für die Risiken der in der Umgebung angesiedelten Industriebetriebe oder der Infrastruktur. Neu ist, dass man neben immobilen Werten das Augenmerk verstärkt auch auf mobile Güter und Gefahren legen muss. Dazu gehören etwa wert- volles „mobiles“ Lagergut wie Automobile oder gefährliches „mobiles“ Lagergut wie Chemikalien. Sie müssen versicherungstechnisch als „in Bewegung“ beurteilt werden. Für die Kumulrisiko-Betrachtung ist das eine anspruchsvolle Aufgabe, die mit einem Paradigmenwechsel von der rein „statischen“ hin zur „mobilen“ Modellierung verbunden ist. Leistungs- fähige Informations- und Tracking-Systeme im Bereich der Telematik sollten die Versicherungswirtschaft bei der Risikoeinschätzung und -bewertung unterstützen. Alle Beteiligten werden künftig ihren Beitrag zur besseren Transparenz von Großrisiken und deren Abhängigkeiten (Lieferketten) leisten müssen, damit solch kritische Risiken besser einschätzbar und damit versicherungstechnisch besser zu kalkulieren sind.

    Schadenabschätzung aus der Luft

    Neuland hat man in Tianjin bei der Schadenbearbeitung betreten und erstmals bei einem Nicht-Naturkatastrophen-Schaden Drohnen und Satelliten zur Aufklärung eingesetzt. Die Satellitendaten zeigten sämtliche betroffenen Fahrzeuge, Container und Gebäude und lieferten wertvolle Informationen über Grad und Ausmaß der Schäden. Die von den Satelliten gelieferten Informationen wurden durch räumliche Daten aus Kopter-Drohnen ergänzt, deren Auflösung (abhängig von der Flughöhe) zum Teil im Zentimeterbereich lag. Die Kombination der räumlichen Informationen mit Data- Mining- und Web-Crawling-Verfahren ermöglichte eine Zuordnung zu den jeweiligen Versicherten. Mithilfe der Daten aus Satelliten und Drohnen konnte man auch feststellen, dass der Explosionskrater mit einem Durchmesser von 100 Metern außerhalb der bebauten Lagerflächen lag. Daraus ließ sich schließen, dass die Chemikalien, die zu der Explosion geführt hatten, im Freien gelagert wurden. Die immer genauere Auflösung der Bilder und die hohe Frequenz an verfügbaren Satellitendaten dürften dafür sorgen, dass bei Großschäden aller Art eine erste rasche Schadenabschätzung aus der Luft zum Standard wird.
    Munich Re Experten
    Olaf Köberl
    ist Kapitän und Rechtsanwalt und fuhr zehn Jahre lang als Nautischer Schiffsoffizier auf Tank- und Containerschiffen.
    Michael Klug
    ist Senior Consultant Corporate Claims und als Key Case Manager global für die ressortübergreifende Steuerung von komplexen Größtschäden zuständig.
    Winrich Krupp
    ist Senior Claims Manager für Sach- und Engineering-Schäden in den MENA- und APA-Märkten.
    Alfons Maier
    ist als Senior Loss Control Consultant im Bereich Corporate Claims bei Munich Re tätig.
    Klaus Wenselowski
    ist als Leiter des Property-Schadenreferats im Bereich Claims Management & Consulting für Global Clients/ North America tätig.
    Dieter Ackermann
    ist als Claims Manager im Bereich Europa/Lateinamerika bei Munich Re tätig.

    Newsletter

    Immer einen Schritt voraus mit exklusiven Einblicken und Branchen-Updates! Abonnieren Sie unseren Munich Re Insights Newsletter und lernen Sie die neuesten Trends im Risikomanagement, Expertenanalysen, Markteinblicke und Innovationen in der Versicherungsbranche aus erster Hand kennen. Seien Sie Teil unserer Gemeinschaft von Vordenkern bei Munich Re und machen Sie sich auf den Weg in eine widerstandsfähigere Zukunft.