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Für Lebens- und Berufsunfähigkeitsversicherer gehört die medizinische Risikoeinschätzung zu den Grundfesten ihrer Tätigkeit. Diese erfolgt evidenzbasiert, also auf Grundlage empirischer Daten. Umso herausfordernder sind für die Branche Ereignisse wie die Corona-Pandemie. Letztere brachte unter anderem eine neue Langzeiterkrankung mit sich, zu der es anfangs naturgemäß kaum Daten gab: das Post-COVID-19-Syndrom, besser bekannt als Long-COVID.
Wie viele Versicherte werden am Ende der Pandemie wohl darunter leiden und Ansprüche auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) haben? Diese Frage stand sofort im Raum und weckte die schlimmsten Befürchtungen. Eingetreten sind sie zum Glück nicht. Bestätigt haben sich stattdessen die Mitte 2022 publizierten und – im Hinblick auf die Anzahl der durch Post-COVID-19 ausgelösten BU-Fälle – erfreulichen Prognosen von Munich Re.
Kein signifikanter Anstieg der BU-Schadenfälle erwartet
„Damals haben wir alle verfügbaren medizinischen Informationen und Studiendaten ausgewertet und eine neue Kalkulationsmethode entwickelt, um für den deutschen BU-Markt potenzielle Invaliditätsansprüche berechnen und die Auswirkungen der Pandemie auf die Berufsunfähigkeitsversicherung einschätzen zu können“, erklärt Steven Wiseman, der das Projekt als Senior Medical Consultant bei Munich Re geleitet hat.
Das Ergebnis? Im aus versicherungsmedizinischer Sicht wahrscheinlichsten Szenario hatte das Projektteam einen Anstieg der BU-Schadenfälle um 0,5 % pro Jahr errechnet. Im Best-Case-Szenario wäre der Anstieg noch geringer ausgefallen und hätte bei 0,1 % jährlich gelegen. „Heute, fast zwei Jahre später, wissen wir, dass sich unsere Berechnungen weitgehend bestätigen“, sagt Mathias Orban. Er war als Medical Consultant Teil des Projektteams und ergänzt: „Die Schadenerfahrungen unserer Kunden bestätigen inzwischen sogar eher das Best-Case- als das von uns angenommene Szenario. Vom Worst-Case-Szenario sind wir im deutschen Markt jedenfalls weit entfernt. International sieht es ähnlich aus.“ Christiane Suchy, Medical Consultant und ebenfalls Teil des Projektteams, ergänzt: „Die Schadenfallquoten sind weitgehend stabil geblieben. Zwar sind durchaus einige Schadenfälle auf Long-COVID zurückzuführen. Schadentreiber wie etwa das Chronic Fatigue Syndrome sind als BU-Ursache dafür aber zurückgegangen. Wir beobachten also eher einen Diagnoseshift als eine Zunahme an Schäden.“
Viele Einzelfaktoren machen die Berechnung komplex
Um die quantitativen Auswirkungen von Long-COVID auf die Berufsunfähigkeitsversicherung zu berechnen, mussten die Munich Re Experten zahlreiche Einzelfaktoren berücksichtigen und ein eigenes Kalkulationsmodell entwickeln. Dieses, so das Projektziel, sollte so konstruiert werden, dass es bei Bedarf möglichst einfach auf andere Märkte und auch für vergleichbare Berechnungen bei künftigen Pandemien anwendbar ist. So viel vorab: Das ist gelungen. Dabei begannen die Herausforderungen schon bei der Beschreibung des Krankheitsbilds. Eine Definition des Post-COVID-19-Syndroms wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erst im Herbst 2021 vorgelegt. Viele der von Munich Re ausgewerteten Daten und Studien stammten jedoch aus der Zeit davor. Dies erschwerte die Vergleichbarkeit, da den Studien keine einheitliche Erkrankungsdefinition zugrunde lag. Einvernehmen besteht unter Medizinern jedoch über die Phasen der Genesung nach einer COVID-Erkrankung.
Die Akutphase umfasst bis zu vier Wochen nach Krankheitsbeginn und kann mit vielfältigen Symptomen einhergehen: darunter starke Müdigkeit, Kurzatmigkeit, verminderte Leistungsfähigkeit, Husten, Herzrasen, psychische und kognitive Störungen etc. Von einer anhaltenden symptomatischen COVID-19-Erkrankung (Phase 2) sprechen Mediziner, wenn die Symptome auch vier bis zwölf Wochen nach Beginn der Krankheit noch bestehen. Vom Post-COVID-19-Syndrom (Phase 3) ist die Rede, sobald Symptome, die während oder nach einer COVID-Erkrankung entstanden sind, zwölf Wochen oder länger anhalten und nicht über eine alternative Diagnose erklärt werden können.
Ausgewertet wurden Studien, denen Daten zu COVID-19-Erkrankungen nach der Akutphase zugrunde lagen. Die Herausforderung für das Munich Re Team bestand darin, die Studien aus versicherungsmedizinischer Sicht zu hinterfragen und die BU-relevanten Ergebnisse herauszufiltern. „Das erfordert ein marktspezifisches Vorgehen“, erklärt Wiseman, denn: „In Deutschland sollte für die Geltendmachung eines Anspruchs aus der BU-Versicherung in der Regel eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von mindestens 50 % über mindestens sechs Monate zugrunde liegen, welche die Ausübung des eigenen Berufs nicht zulässt.“ Dies ist der Marktstandard, Abweichungen sind möglich. Die Studiendaten mussten daher entsprechend selektiert und ausgewertet werden.
Hinzu kommen viele weitere Einflussfaktoren, die für die Einschätzung der potenziellen Auswirkungen des Post-COVID-19-Syndroms auf das Invaliditätsgeschäft maßgeblich sind. Die wichtigsten Einflussfaktoren in aller Kürze:
- Versicherte Population
Die versicherte Population entspricht nicht der Allgemeinbevölkerung. BU-Versicherte sind sozioökonomisch bessergestellt, die Gruppe hat einen überdurchschnittlich guten Gesundheitszustand und – bedingt durch den Filter einer umfassenden medizinischen Risikoprüfung – auch weniger Vor- und Begleiterkrankungen. Letztere haben großen Einfluss auf die Schwere und den Verlauf einer COVID-Erkrankung. - Impfquote
Klinische Studien weisen darauf hin, dass vor allem Patienten mit schwerem Verlauf ein Post-COVID-19-Syndrom entwickeln. Die Impfung schützt vor schweren Verläufen. Daher ist die Impfquote ein wichtiger Einflussfaktor. In der versicherten Population, so die Annahme von Munich Re, fällt sie deutlich höher aus als in der Allgemeinbevölkerung.
- Impfdurchbrüche
Da es keinen 100-prozentigen Impfschutz gibt, kommt es zu Impfdurchbrüchen. Zudem lässt die Impfwirkung nach sechs Monaten nach, sodass ggf. Booster-Impfungen erforderlich sind, und es entstehen laufend neue SARS-CoV-2-Varianten, die den Impfschutz umgehen und so zu Infektionen führen könnten. Das neu entwickelte Kalkulationsmodell von Munich Re berücksichtigt dies. - Symptomatik
Wie viele COVID-19-Infektionen bleiben unentdeckt, weil sie asymptomatisch verlaufen? Diese Frage hat das Team in die Berechnungen ebenso einfließen lassen wie die nach der Schwere der Symptomatik. Das Kalkulationsmodell unterscheidet zwischen nicht-hospitalisierten Fällen mit milden bis moderaten Symptomen und hospitalisierten Fällen mit schweren bis lebensbedrohlichen Symptomen. Sowohl hospitalisierte als auch nicht-hospitalisierte Fälle können ein Post-COVID-19-Syndrom entwickeln. - Hospitalisierungsrate und Wahrscheinlichkeit für BU-relevante Erkrankungen
Der Anteil derjenigen Erkrankten, die ein Post-COVID-19-Syndrom entwickeln und Anspruch auf Leistungen aus der Invaliditätsversicherung haben, ist bei Erkrankten mit Klinikaufenthalt deutlich erhöht. Deshalb ist die Hospitalisierungsrate für die Kalkulation ebenso entscheidend wie die Wahrscheinlichkeit, mit der hospitalisierte und nicht-hospitalisierte Betroffene ein Post-COVID-19-Syndrom entwickeln.
Das Kalkulationsmodell: eine Blaupause für andere Märkte und künftige Pandemien
Den Wirklichkeitstest hat das neue Kalkulationsmodell bestanden, die zusätzlichen BU-Schadenfälle pro Jahr haben sich im deutschen Markt – wie vorhergesagt – realisiert. Der Trend geht zum Best-Case-Szenario. Dass dies bei der Vielzahl der Einflussfaktoren gelungen ist, lässt bereits erahnen, wie viel versicherungsmedizinisches Know-how in der Entwicklung steckt.
Der Aufwand hat sich gelohnt: „Unser Kalkulationsmodell ist umfassend adaptierbar und kann als Blaupause für andere Märkte sowie zur Berechnung der Auswirkungen künftiger Pandemien auf die Lebens- und Berufsunfähigkeitsversicherung dienen“, betont Wiseman. Das Grundmodell (vgl. Abb.) sowie die einzelnen Berechnungsschritte lassen sich je nach Markt oder Pandemiegeschehen vergleichsweise einfach anpassen.
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